Wer heute die Universität als Ort der freien Rede erlebt oder sie als solchen zumindest noch in Erinnerung hat, ist entweder dem Renteneintrittsalter nah oder Deutschland fern. Anhand einer Fülle von jüngeren und jüngsten Beispielen zeigt Thomas Hartung auf, dass die Novellierung des nordrhein-westfälischen Landeshochschulgesetzes mit ihrem verräterischen Passus, der sich gegen die Einschränkung der Redefreiheit im akademischen Umfeld richtet, nicht aus heiterem Himmel kommt, sondern eine direkte Reaktion darstellt auf die tägliche Praxis an deutschen Universitäten.

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Von Deutschland lernen heißt siegen lernen – das könnte sich Donald Trump gedacht haben, so er von der Novellierung des Landeshochschulgesetzes in NRW durch die parteilose Ministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen Kenntnis erhalten hätte. Neben Unsinn wie etwa dem Promotionsrecht für Fachhochschulen steht dort ein Passus, der den US-Präsidenten inspiriert haben könnte: er hatte per Dekret die Redefreiheit an amerikanischen Hochschulen gesichert. Denn seit diesem Wintersemester sind auch in NRW Ordnungsmaßnahmen bis zur Exmatrikulation vorgesehen, „wenn jemand die Meinungs- oder Redefreiheit an Hochschulen einschränkt“, freut sich Till-Reimer Stoldt in der Welt.

Das Problem ist weniger, dass dortzulande die Politik etwa aus Sicht der Universität Chicago zur Sicherstellung der Meinungsfreiheit keine Rolle spielen sollte: Chicago-Präsident Robert J. Zimmer bezeichnete Trumps Vorstoß laut Spiegel als „tiefgreifende Bedrohung“ (!) für den offenen Diskurs am Campus. Das Problem ist vielmehr, dass hierzulande angesichts der grundgesetzlich verbrieften Freiheit von Meinung sowie Wissenschaft, Forschung und Lehre überhaupt betont werden muss, dass die Meinungs- oder Redefreiheit an Hochschulen keiner Einschränkung unterliegen darf. Die aber nehme laut Deutschem Hochschulverband (DHV) stetig zu.

Schon im April 2017 verabschiedete der 67. DHV-Tag in München eine Resolution „Zur Streit- und Debattenkultur an Universitäten“, in der eine „erodierende Streitkultur“ konstatiert wurde. So werde „Political Correctness“ zunehmend ausgrenzend und latent aggressiv instrumentalisiert, ja als Vehikel für die Durchsetzung politischer Interessen genutzt, „verbunden mit der Attitüde, aus einer moralisch unangreifbaren Position heraus zu argumentieren.“ Wenn aber abweichende wissenschaftliche Meinungen Gefahr laufen, als unmoralisch stigmatisiert zu werden, heißt es weiter, „verkehrt sich der Anspruch von Toleranz und Offenheit in das Gegenteil: Jede konstruktive Auseinandersetzung wird bereits im Keim erstickt. Statt Aufbruch und Neugier führt das zu Feigheit und Anbiederung.“

An dieser Situation hat sich nichts geändert, im Gegenteil. Laut DHV-Präsident Bernhard Kempen „erfolgt zunehmend ein Angriff auf das Wesen der Universität: auf die Freiheit des Forschens, Denkens und Debattierens“. Eine Minderheit versuche, ihnen unsympathische Ansichten nicht argumentativ zu widerlegen, sondern zu unterdrücken „mit Drohungen, Shitstorms, Blockaden und manchmal physischer Gewalt“, sagte Kempen der Welt. Damit bestätigt sich leider ein allgemeiner Trend: Knapp zwei Drittel der Deutschen fürchten Sprechverbote im öffentlichen Raum, ergab eine FAZ-Umfrage im Mai. Zu den heikelsten Themen zählten Islam und Flüchtlingspolitik. 41 Prozent der Umfrageteilnehmer sehen die politische Korrektheit als übertrieben an. Über der Hälfte „geht es auf die Nerven, dass einem immer vorgeschrieben wird, was man sagen darf und wie man sich zu verhalten hat“.

„unterstellte Nicht-Redefreiheit“

Jüngstes Opfer akademischer Unterdrückung war Mario S., Student mit CDU-Parteibuch an der Uni Köln. Er besuchte ein Seminar zur Rassismus-Kritik, in dem es auch um die Kölner Silvesternacht 2015 ging. In ihren Ansichten dazu hätten Dozentin und Studenten harmoniert: Die Herkunft der Täter sei irrelevant, wichtig sei vor allem, dass es sich um Männer handelte. Einzig Mario S. hinterfragte den Begriff „Kulturrassismus“ und vertrat die Ansicht, die Herkunft der Täter „aus einer Macho-Kultur“ spiele durchaus eine Rolle. Daraufhin hätten ihn Kommilitonen aufgefordert zu schweigen, unterbrachen und beschimpften ihn. Die Dozentin habe ihm gar geraten, das Seminar zu verlassen, und ihm künftig jede Aussage zu verbieten versucht, die sie für kulturrassistisch hielt. Von niemandem habe er erwartet, seine Argumente gutzuheißen, versichert er der Welt, nur vortragen wollte er sie.

Der Vorgang steht in einer unguten Tradition, die sich interessanterweise nur gegen „rechte“ Auffassungen richtet – was immer man auch darunter verstehen mag. Denn Politiker der Linken können an Unis ungestört für sich werben, sogar vom Verfassungsschutz beobachtete gewaltbejahende Linksextreme wie die „Interventionistische Linke“, die erst im Sommer mit Bündnispartnern an den Unis Köln und Leipzig Veranstaltungen durchführen durfte. Der AfD sind solche Auftritte dagegen unmöglich, wie 2017 die Vorgänge um einen Vortrag des Biologieprofessors Gerald Wolf zum Thema Gender-Forschung an der Uni Magdeburg zeigten.

Als der damalige Landesparteichef Andre Poggenburg auf Einladung der „Campus Alternative“ die Veranstaltung eröffnen wollte, skandierten rund 400 Studenten „Haut ab!“ oder „Es gibt kein Recht auf Nazipropaganda!“ und verhinderten mit Trillerpfeifen, dass die Veranstaltung starten konnte. Sie wurde abgebrochen, Polizei zog auf.

Auch an anderen Unis waren solche Tiefpunkte der Debattenkultur zu beobachten. So an der Uni Siegen, wo der Philosoph Dieter Schönecker kürzlich ein Seminar zum Thema „Grenzen der Rede- und Meinungsfreiheit“ plante – mit zwei Referenten ein, die diese Grenzen verkörpern: dem Publizisten Thilo Sarrazin (SPD) und dem Philosophen Marc Jongen (AfD). Wer diesen Hetzern eine Bühne biete, stecke mit ihnen unter einer Decke, schimpften Studenten. In einem offenen Brief dekretierten einige Kollegen gar, man dürfe Schöneckers Frage, ob es Grenzen der Redefreiheit geben solle, gar nicht stellen, weil mit dieser Formulierung „bereits die Karte einer unterstellten Nicht-Redefreiheit ausgespielt“ werde. Das Dekanat untersagte Schönecker zunächst, die Veranstaltung mit Hochschulmitteln zu finanzieren. Dennoch traten Sarrazin und Jongen auf – unter Polizeischutz.

An der Uni Frankfurt erfuhr die Direktorin des „Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam (FFGI)“, Susanne Schröter, im Frühjahr ein Kesseltreiben. Sie hatte es sich erlaubt, eine Konferenz zum Thema „Das islamische Kopftuch – Symbol der Würde oder der Unterdrückung?“ zu veranstalten. Studenten wollten „das nicht weiter dulden und fordern deshalb, dass die Veranstaltung … abgesagt wird und Prof. Dr. Susanne Schröter ihrer Position enthoben wird.“ Das Pamphlet endet ohne Rücksicht auf die Semantik des Begriffs Rassismus: „Für eine Universität an der Alle bedenkenlos studieren können! Kein Platz für Anti-Muslimischen Rassismus an unserer Uni!“ [sic!] Sie bekamen Schützenhilfe von 114 teilweise akademischen „Erstunterzeichnern“ einer „migrationspädagogischen Stellungnahme“ gegen ein Kopftuchverbot. Die Konferenz fand unter starker Medienpräsenz statt.

Ähnlich war es auch, als die juristische Fakultät Köln Ende 2017 eine Podiumsdiskussion mit Rainer Wendt organisierte, dem Bundesvorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft, der damals vor Ausländerkriminalität gewarnt hatte. Auch hier wurden Protest-Briefe verschickt und die einladenden Dozenten beschimpft. Während Wendt aber in Frankfurt kurz zuvor aufgrund massiven Drucks von einer ähnlichen Veranstaltung ausgeladen wurde, blieben Kölns Juristen standhaft. Wendt nahm unter Polizeischutz teil und wurde zeitweise niedergebrüllt. Ebenso niedergebrüllt wurde der Leipziger Jura-Professor Thomas Rauscher wegen Tweets wie „Es ist natürlich, sich zu wehren, wenn die eigene Kultur untergeht.“ Hunderte Demonstranten skandierten „Rauscher rausch ab!“; eine Petition, die seine Entlassung forderte, brachte es auf 18.000 Unterschriften. Der Beamte Rauscher blieb.

„moralisches Wettrüsten“

Festzuhalten ist also, dass die Intoleranz gegenüber unbequemen oder einfach nur unliebsamen Positionen wächst: In Berlin hatten Herfried Münkler und Jörg Baberowski jahrelang unter fundamentalistischen Studenten zu leiden, die ihre Vorlesungen massiv störten. Einige prangerten etwa an, dass Münklers Vorlesung zur Ideengeschichte außer Frantz Fanon und Hannah Arendt keine „nicht-weißen“ oder weiblichen Philosophen auf der Themenliste führt. Aber wer bereits die Literaturauswahl einer Vorlesung als Fortschreibung struktureller Machtverhältnisse einer Gesellschaft sieht, dem geht es nicht um eine intellektuelle Debatte oder gar um Wissenschaft, sondern darum, eine – oft gar politische – Forderung nach einem Ausgleich für subjektiv empfundenes, aber objektiv behauptetes Unrecht zu stellen.

Baberowski wurde gar die Vorstellung seines Buchs „Räume der Gewalt“ an der Universität Bremen versagt: Der Asta hatte auf Flugblättern und im Internet verbreitetet, dass er ein Rechtsradikaler sei, der Gewalt gegen Flüchtlinge verharmlose und „Menschen mit blankem Hass“ begegne. Laut Kölner Landgericht sei das von der Meinungsfreiheit gedeckt. „Es gibt die Herrschaft des politisch Korrekten“, klagte er in der BZ. „Man tauscht keine Argumente mehr aus, sondern stigmatisiert den Kritisierten als Rassisten. Für den ist das dann der soziale Tod. Wer sich in Deutschland dem Diskurs der Herrschenden widersetzt, wird so lange stigmatisiert, bis niemand mehr mit ihm redet.“ Jüngst wurde ein Zentrum für vergleichende Diktaturforschung unter seiner Leitung nicht eingerichtet.

„Die jeweils zur Schau gestellten Meinungen sind nur die Fassade dessen, worum es geht: um den Anspruch, eine Form der moralischen Überlegenheit zu bekunden“, ärgert sich Peter-André Alt in der BZ und spricht von einem Fundamentalismus, der sich im Namen einer allgemeinen Moral gegen die Freiheit der Rede und des Denkens wendet. „Er formuliert Verbote, weil er vorgibt zu wissen, was moralisch richtig ist. Es liegt auf der Hand, dass dieser Fundamentalismus mit den Regeln der Wissenschaft nicht übereinstimmen kann. Ihr Erkenntnisanspruch zielt niemals auf Heilswahrheiten, sondern allein auf transparente Beweisführung.“

„Das Problem ist, dass viele das, was sie für richtig erachten, absolut setzen“, meint Kempen. „Fakten und Lehrmeinungen zu diskreditieren, weil sie nicht den eigenen Überzeugungen entsprechen, das rührt an die Substanz der Institution Universität“, empört er sich und kritisiert die Empfindung der Uni als „Wohlfühlraum“, an der einige auch versuchten, andere zu verdrängen. „Der universitäre Diskurs ist meistens links, es gibt einfach keine Mitte mehr“ erklärte in der BZ die FU-Studentin Judith Sevinç Basad und gründete prompt die Initiative „Studenten für Demokratie und Meinungsfreiheit“.

Einst war die Universität als akademischer Ort ein Raum, in dem es nicht nur darum geht, was gedacht wird, sondern auch wie, kritisch nämlich; ein Raum, in dem grundsätzlich jede Position verhandelt werden kann. Dazu gehört auch, eigene Überzeugungen immer wieder herauszufordern, zu hinterfragen, Reibungen und Dissens zuzulassen. Das ist offenkundig vorbei. In einer Stellungnahme von Studenten der Berliner Alice-Salomon-Hochschule zur Entfernung des vorgeblich sexistischen Gedichts „avenidas“ von Eugen Gomringer hieß es, dass die jungen Menschen ein „komisches Bauchgefühl im eigenen Haus“ hätten. Das lässt tief blicken.

Zum einen in die Wahrnehmung der Uni als Zuhause, wo sich alle Studenten wohlfühlen und sich wie Mieter bei der Hausverwaltung beschweren können sollen, wenn ihnen etwas nicht passt. Zum anderen in die Wahrnehmung als Mieter, die sich im Recht wähnen, nicht nur die Farbe der Wände zu bestimmen, sondern auch darüber, wer im Haus sprechen darf und wer nicht. So berichtete der Spiegel über eine Studentin, die der AStA der Uni Bremen namentlich als „rechtsextrem“ durch Aushänge und die das Persönlichkeitsrecht verletzende Verteilung von Flyern mit Bild mit den Worten anprangert: „Ihre Mutter ist eine prominente NPD-Politikerin, ihr Großvater war SS-Mann, die Studentin selbst soll als Mädchen im Jugendbund Sturmvogel organisiert gewesen sein, der dem rechtsextremen Lager nahesteht…“. Die Denunzierte beteuert zwar, weder rechtsradikal noch in einer Partei oder politischen oder weltanschaulichen Gruppierung organisiert zu sein. Umsonst: der AStA weigerte sich, die Aushänge zu entfernen. In Bochum, Hannover, Halle und Bielefeld geschah Ähnliches.

„wissensproduzierende Staubfänger“

Für die USA konstatierte Thomas Thiel in der FAZ, dass es statt um den Austausch von Argumenten um Gruppenzugehörigkeit in Verbindung mit der besseren Moral geht. Er erkennt ein „moralisches Wettrüsten“, mit dem unangenehme Realitäten ausgegrenzt und ausgeblendet werden sollen. So wurde an der Evergreen State University der Biologieprofessor Bret Weinstein mit Rassismusvorwürfen zum Rücktritt gedrängt, weil er sich einem verpflichtenden Abwesenheitstag für weiße Professoren verweigert hatte. Einer Umfrage des Gallup Instituts und der Knight Foundation zufolge waren 2018 Vielfalt und Inklusion 53 Prozent der amerikanischen Studenten wichtiger als Meinungsfreiheit.

Wer Meinungsfreiheit für eine Form von Vielfalt oder zumindest für ihre Voraussetzung hält, muss zur Kenntnis nehmen, dass die meisten amerikanischen Studenten das anders sehen: Immerhin 37 Prozent der Befragten finden es in Ordnung, zu diesem Zweck einen Redner niederzubrüllen. Und erstmals sind sie mehrheitlich der Überzeugung, dass Vielfalt – oder, wie es in der Umfrage auch heißt: eine „positive Umgebung“ – nur durch Einschränkung der Meinungsfreiheit erreicht werden kann. „Jetzt gilt es, unsere Freiheit zu sichern – durch Verbote“, gibt Doppeldenk-Philosoph Richard David Precht im letzten September-Stern auch schon mal den teutonischen Kurs vor.

Obwohl eine solche Studie für Deutschland noch nicht vorliegt: Das ist beängstigend. Denn Steven B. Gerrard, Philosophieprofessor am Williams College in Massachusetts, bilanziert ähnlich Kempen, dass sich das zurzeit an höheren Bildungsinstituten herrschende Klima am besten mit dem Ausdruck „Comfort College“ umschreiben ließe, also „Wohlfühluniversität“. Der Hintergrund: 2018 hatte Gerrard vorgeschlagen, Studenten zu einem Gelöbnis auf die Redefreiheit an der Universität zu bewegen, da diese Privilegierte wie Minderheiten gleichermaßen schütze. Flugs kam die gepfefferte Antwort einiger Studenten: „Redefreiheit“ sei „von rechtsgerichteten und liberalen Gruppen als diskursiver Deckbegriff für Rassismus, Xenophobie, Antisemitismus, Homophobie, Transphobie, Ableismus und Klassismus kooptiert worden“. Und die stünden Behaglichkeit und Komfort natürlich im Wege.

Bei der Suche nach Ursachen gelangt man von der emotionalen, moralischen Denkrichtung rasch zur politischen. Gerrards Erklärung: Da Inklusion und Diversität die Zahl der Konsumenten und damit auch den Marktanteil der Universität als Profitzentrum erhöhten, wurde diese gemischter, reichhaltiger – und reicher. Einst willkommenes Nebenprodukt der Wissensproduktion, sind am „Comfort College“ Inklusion und Diversität selbst Produkt und Dienstleistung der Uni, ihre Markenidentität beruht auf einer behaglichen und komfortablen Erfahrung der studentischen Konsumenten.

Diesen kultischen Wohlfühlglauben störten „wissensproduzierende Staubfänger wie Wahrheit, Logos und die Freiheit, Skepsis und kritisches Denken zu äußern“, meint Marc Neumann in der NZZ. Also weg damit? Weil der Kunde König ist, machen die Universitätsleitungen brav mit. Neumanns bitteres Fazit: „Sollte Gerrard recht haben, haben unbequeme Dinge wie Forschungs- und Redefreiheit an der Uni bald nichts mehr zu suchen. Nur – wofür braucht’s dann noch Universitäten?“

Für Deutschland hat die Bochumer Philosophin Maria-Sibylla Lotter ein etwas anderes Erklärungsmuster gefunden. Danach genüge für viele selbsternannte Opfervertreter ihr subjektives Empfinden als Beweis. Jeder Einwand, jede Verteidigung bestätigt ihnen nur die Verblendung der anderen, denen sie „aufgrund ihrer Identität das Recht auf Verständnis oder auch nur freie Meinungsäußerung zu bestimmten Themen“ zusprechen oder verweigern wollten, zitiert sie die Zeit. Lotter erkennt „die Gestalt einer Anklage durch selbst ernannte Richter“. Als im Sommer ein Referent an der Uni Bonn die familienpolitisch konservative Initiative „Demo für alle“ vorstellen wollte, randalierten etwa 200 Störer im Hörsaal, brüllten „Halt die Fresse“ und „Fuck you“, bis die Veranstaltung abgebrochen wurde. Der AStA lobte anschließend, Studierende, die „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ keine Bühne böten, seien „Kern einer demokratischen Uni“.

„Katalysator für gesellschaftliche Spaltungen“

Der Philosoph Hermann Lübbe hat jetzt einen 1984 entstandenen Text erneut aufgelegt: „Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft.“ Darin konstatiert er ein industriegesellschaftsspezifisches Krisensymptom: eine „Neigung…, auf die Herausforderung von Gegenwartsproblemen moralisierend zu reagieren“. Man folgt einem zunächst bequemen, aber höchst gefährlichen Weg, indem schwer zu beantwortende, politisch streitbare Sachfragen in moralische verwandelt werden. Die Probleme, so die Deutung der Moralisten, bestehen, weil mehr oder weniger böswillige Menschen sie bewusst erzeugen oder zumindest in Kauf nehmen, um ihre eigennützigen, allgemeinschädlichen Ziele zu verfolgen: „Politischer Moralismus führt in die Unmoral“.

Auch Christian Schüle erkennt im DLF „Resultate einer ideologiegetriebenen Radikalisierung im Namen einer höheren Moral“. Zwar bringe das Erlauben ein Machtverhältnis zum Ausdruck: jemand gewährt, der andere gehorcht. Doch „wer erlaubt da wem was mit welcher Legitimation“, fragt er. Denn die zu Recht so hoch gehaltene Pluralität und Diversität der unterschiedlichsten Lebensentwürfe werde nun an Bedingungen geknüpft: „Nach erfolgter Gesinnungsprüfung senkt oder hebt ein anonymes moralisches Zentralkomitee dann den Daumen. Das hat autoritative, fast autoritäre Züge.“

Und Schüle prophezeit: „Die aggressive Politisierung von Scham und Sünde durch einen normierten Corpsgeist könnten letztlich Misstrauen, Missgunst, Zermürbung, Überwachung und, irgendwann womöglich, Gesetze gegen unerwünschte Meinungsäußerungen zur Folge haben. So würde jede ernstzunehmende offene politische Debatte verschwinden.“ Diese neuen Formen des Puritanismus bildeten „einen fatalen Katalysator für gesellschaftliche Spaltungen“.

Universitäten sollten aber ein Ort sein, an dem mit dem Ziel argumentiert wird, dass sich das bessere Argument durchsetzt. Das bedeutet, dass dort viele verschiedene Standpunkte vertreten sein müssen – und dass diese geäußert, gehört und diskutiert werden. Moralischer Puritanismus befördert das Gegenteil. Daran seien die Professoren, die sich jetzt beklagen, aber teilweise selbst schuld, befindet der Wissenschaftsjournalist Hadmut Danisch auf seinem Blog: sie hätten jahrelang nur die Standpunkte befördert, die Geld, Macht und Karriere sicherten, und damit die verfassungsmäßige Barriere zwischen Politik und Wissenschaft durchbrochen.

Ob es der bessere Weg wäre, die „vier, fünf Spinner“ mit der berühmten Formel von Karl Kraus „nicht einmal zu ignorieren“, fragt Maximilian Probst in der Zeit. Denn jede Form von Aufmerksamkeit und Skandalisierung drohe jene Polarisierungsdynamik in Gang zu setzen, die man doch vermeiden will. Anna Gericke, die NRW-Landesvorsitzende des Rings christlich-demokratischer Studenten (RCDS), fordert dagegen in der Welt „Hochschulverantwortliche, die sich nicht von Angst leiten lassen, sondern von der Freude am leidenschaftlichen, auch harten, aber freien Diskurs“. Auch DHV-Präsident Kempen wirbt „vor allem um eine Tugend: um liberalen Mut“. Schließlich setze sich nur eine Minderheit militanter Studenten dafür ein, die Meinungsfreiheit einzuschränken. Die „große Mehrheit auch der Hochschulleitungen müsste schlicht ihre Bequemlichkeit und Feigheit überwinden“.